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Jacques Derrida - Politik der Freundschaft


Freundschaft dürfte niemand für eine nebensächliche Angelegenheit halten. Auch dass es nicht immer einfach ist, Freunde zu gewinnen und Freundschaften aufrechtzuerhalten, wird niemand bestreiten. Wenn aber von einer Politik der Freundschaft die Rede ist, dann wird es vermutlich für manche zweifelhaft sein, ob hier nicht ein Zusammenhang behauptet wird, der am Eigensinn wahrer Freundschaft vorbeigeht.
Allerdings wird man zugeben müssen, dass es hier zwei Arten bzw. zwei Begriffe vom Freund gibt. Wenn man nämlich etwa von Freunden der Kunst oder sogar Freunden bestimmter Kunstrichtungen spricht, hat man nicht unbedingt den Fall der unersetzbaren Bezugsperson im Sinn. Jochen Gerz hat ganz auf dieser Linie kürzlich den Wunsch danach formuliert, dass die Freunde alter Kunst zu Freunden zeitgenössischer Kunst werden mögen. Hier und in ähnlichen Situationen, spielt das Gewicht von Freundschaften in konkurrierenden Bündnissen eine entscheidende Rolle.
Die Frage wäre nun, ob jene andere Art von Freundschaft die auf das Unvergleichliche einer singulären Person bezogen bleibt, einer vollkommen inkommensurablen Kategorie angehört, oder ob es doch ein Feld mehr oder weniger subtiler Verbindungen zwischen dem einen und dem anderen Fall gibt, so dass man etwa von verschiedenen Modellen sprechen könnte, die in ein Netzwerk kultureller Figuren und Werte eingebettet sind.
Jacques Derrida geht in seinem Buch dieser und damit zusammenhängender Fragen anhand eines Zitats nach, das er wieder und wieder und aus immer neuen Perspektiven befragt, und das den Zweifel an der Vorstellung von einfachen Beziehungen in einem Satz (auf griechisch sind es gerade drei Wörter) zum Ausdruck bringt: „Oh meine Freunde, es gibt keinen Freund.”
Aber die Komplexität der Strukturen lässt sich sicher nicht auf eine einzige Paradoxie reduzieren. Wie Derrida formuliert, sind derartige Stellen auf der Landkarte kultureller Problemstellungen nur der Köder, der zur unermüdlichen Dekonstruktion anstachelt.
Das Ziel dieser Unternehmung, die sich der Reihe nach mit Theorien von Aristoteles über Montaigne, Kant, Nietzsche, Heidegger und Carl Schmitt bis zu Bataille, Blanchot und Foucault auseinandersetzt, dürfte darin liegen, die Wahrnehmung für die komplexen Verzweigungen und Möglichkeiten, die unter den konventionellen Kategorien nur verschüttet werden, wieder zu öffnen, und damit Freundschaft als anomales Ereignis neu zu entdecken. Die Befreiung von Verkrustungen betrifft denn auch die Liquidierung jener Auffassung betreffen, dass es eine scharfe Grenze gäbe zwischen singulären Freundschaften – deren Seltenheit bedeutet, dass ihre Zahl zu Null tendiert – und universellen Freundschaften, die sich am Freund-Feind-Schema orientieren und deshalb einer brüderlichen bzw. demokratischen Welt entgegenarbeiten. Das Dekonstruieren bedeutet demgegenüber ein Freilegen all der Möglichkeiten, die schon früh in der Kulturgeschichte ausgeschlossen wurden – vor allem wären da Freundschaften zwischen Mann und Frau und zwischen Frau und Frau zu erwähnen.
Die Vielzahl der Perspektiven, die hier eingenommen werden können, und die die Lektüre des Buches leicht zu einer Art Delirium werden lassen, scheint am Ende kein einheitliches Bild, keine geordnete oder systematische Theorie zu gestatten. Umso unverständlicher muss deshalb bleiben, warum sich der Verlag entschlossen hat, den ursprünglichen Plural des Originaltitels, „Politiken der Freundschaft” durch den Singular zu ersetzten.

Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 492 Seiten, DM 88,-.

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Michael Hauffen

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