Text

Nehmen wir uns die Zeit!


Wie mechanisch der Mensch in allen seinen sogenannten freien Handlungen ist,
wird von vielen dunkel gefühlt. (...) In Absicht des Leibes sind wir evident Sklaven.
Bei Krankheiten kommen noch die Ärzte hinzu, beim Denken die Bücher. Wie wenn
frei zu handeln glauben bloß in dem Gefühl bestünde daß nun die Uhr richtig geht?
Lichtenberg, Sudelbücher

Heute ist die Erkenntnis schon relativ verbreitet, daß es sich bei Kunstobjekten um Gegenstände handelt, die nur scheinbar, ganz gemäß der Logik des Fetischobjektes, ihre relevanten Eigenschaften in sich tragen, wie etwa eine Kartoffel ihren Nahrungswert. Provoziert wurde und wird dies nicht zuletzt durch Attacken von Künstlern, die sich den alten Traditionen von Malerei und Skulptur mit ihren Mystifizierungen widersetzen und dagegen den Akt der Erzeugung, der Wahrnehmung oder sogar der Institutionalisierung eines Gegenstandes bzw. einer Praxis als Kunst zum Inhalt ihrer Arbeit machen. In kritischer Abhebung von einer substantialisierenden Sichtweise gewann gleichzeitig auch auf seiten der Kunsttheorie eine Perspektive an Bedeutung, die darauf abhebt, daß die Eigenschaften von Kunstwerken im sozialen Umgang mit ihnen – über den Prozeß der Zuschreibung und Anerkennung symbolischer Werte – erst erzeugt werden, und deshalb nur aus dem jeweiligen kulturellen Kontext zu verstehen sind . Entsprechend verabschiedet man sich auch in anderen Bereichen zunehmend von Auffassungen, die metaphysisch nach transzendenten Grundbedingungen suchen, und nimmt die theoretische Herausforderung an, die darin liegt, daß ewige Werte, natürliche (A-priori-) Gegebenheiten, wie auch die Sprache, in der diese formuliert werden, nur Konstruktionen sind, deren Geltungsdauer endlich ist. Seit Einstein ist z.B. der Raum und das Licht nichts verläßlich Unbedingtes mehr. Die mit dieser Herausforderung entstandene Unruhe wird aber auch als unbequeme und sogar unerträgliche Belastung empfunden. Eine Reihe von Theorien versuchen die Anstrengungen, die heute erforderlich sind, um in einer komplizierten Welt zurecht zu kommen, dadurch zu mildern, daß sie wieder absolute Gesetze, Kosmogonien oder Fundamentalismen einführen. Nicht zuletzt die Naturwissenschaften spielen dabei eine ambivalente Rolle, wobei im Hinblick auf sie etwa der Eindruck entsteht, daß die Zeit eines der letzten Refugien wäre, um wie S. Hawking von einem Wissen zu träumen, das ein für allemal erworben werden und dann ewige Gültigkeit bewahren könnte.

Verschiedene Ansätze ein Erklärungsmodell für die Entstehung und Aufrechterhal-tung solcher komplexen Strukturen wie Zeit zu entwickeln, ohne sich dabei auf me-taphysische Restbegriffe stützen zu müssen, liegen heute – vor allem im Bereich der Sozialwissenschaften – vor. Eine derartige Theorie, geht also nicht (wie zumeist auch die Philosophie) von einem schon fertig an die natürlichen und gesellschaftlichen Handlungserfordernisse angepaßten Einzelsubjekt aus. Sie kann daher die Kritik an jenen, immer wieder faszinierenden Glaubensvorstellungen in der Weise produktiv umzusetzen versuchen, daß sich daraus auch für die Allgemeinheit akzeptable alternative Handlungsperspektiven ergeben. Dem so vorgezeichneten Weg zu Ansätzen davon, wie Zeit der starren Autorität theoretischer und praktischer Verfügungsgewalt entwunden werden kann, soll hier zunächst nachgegangen werden.

Ausgehend von Wittgensteins Nachweis, daß gleiche Wörter in verschiedenen Zusammenhängen ganz verschiedene Bedeutungen haben können, demgemäß auch dem Wort »Zeit« nicht notwendig eine objektive, homogene Qualität entsprechen muß, lassen sich soziologisch verschiedenste Verwendungsweisen von ZEIT (im Englischen könnte man besser sagen verschiedene Arten von timing) unterscheiden. Unter diesem Aspekt läßt sich das Problem der Synchronisierung von menschlichen Tätigkeiten in der Natur im Zusammenhang mit der allgemeinen menschlichen Fähigkeit der Synthesebildung sozialer Abläufe einordnen.

Es zeigt sich im Kulturvergleich, daß ein Zeitbewußtsein, wie wir es kennen, in weniger entwickelten Gesellschaften kaum vorhanden war, weil die Koordinierung von Handlungen, z.B. in kleinen Dorfgemeinschaften, direkt über einfache Verständigung und einige wenige relevante Merkmale des Naturgeschehens (Sonnenaufgang, Wetter, Vollmond) zu bewerkstelligen war. Der erste wichtige Schritt, der dauerhafte Spuren hinterlassen hat (Stonehenge), war die genaue Bestimmung des Frühlingspunktes, von dem aus sich dann die Pflanzzeit optimal bestimmen ließ.

Seitdem haben die Menschen den Plan verwirklicht, daß man Termine auf die Sekunde genau bestimmen kann, und das – auf der Basis des für jeden Ort auf der Erde gültigen einheitlichen Kalenders – auf viele Jahre im Voraus. Dies entspricht einem Zustand, in dem alle Menschen voneinander abhängig, nämlich in Handlungsketten erdumspannender Reichweite verflochten sind. Uhren bilden dabei das unerläßliche Werkzeug. Sie bieten die Möglichkeit schwer vergleichbare Abläufe durch einen dritten Ablauf zu vergleichen. In der Antike stellte sich dieses Problem erstmals angesichts öffentlicher Redebeiträge, deren Länge eine mit einer Sanduhr gemessene Zeit nicht überschreiten durfte. Bei einem bestimmten Grad der Gewöhnung an dieses tertium comparationis, und unter Bedingungen, wo sich solche Meßvorgänge in dichter Zahl und hoher Synchronisierung (s.o. Kalender) finden, wird aber die Relativität des Mittels zu einem Zweck praktisch nicht mehr mitgedacht, sondern diesem abstrakten Dritten, das ja nur ein Symbol für eine Vergleichsmethode von Handlungssequenzen ist, als substantiell zugeschrieben: eine Vereinfachung – und die Bedingung von Beschleunigung.

Im Rahmen der Entwicklung zunehmend größerer Syntheseleistungen einer Weltgesellschaft, ist auf seiten des einzelnen zivilisierten Menschen die Ausbildung immer stärkerer Selbstzwänge notwendig. Wenn wir heute in Echtzeit alle Orte auf der Erde sehen können, oder im Kriegsfall ein begrenzter Raum nicht mehr verteidigt werden kann, weil die Zeit dazu nicht mehr ausreicht, so erfordert das natürlich von einem diesen Bedingungen angepaßten Subjekt andere Einstellungen, als sie etwa ein Indianer vor der „Entdeckung” des amerikanischen Kontinents gehabt haben mußte. Die fortschreitende Vergesellschaftung der Handlungsmöglichkeiten der Einzelsubjekte unter dem Schema der Zeit, bis hin etwa zur „Kolonialisierung der Nacht” oder zu jenen Überlegungen der Besteuerung unbezahlter Arbeitszeit, erfordert einen immer höheren Grad der Verinnerlichung von Zeitmustern und bewirkt damit eine Verengung der Spielräume. Von den Opfern des zunehmend strengeren Zeitregimes wird heute die Zeit meist als schmerzhafter Druck empfunden, dem zu entkommen das Motiv verschiedener Abwehrversuche, Utopien bzw. Uchronien ist.

Indem sich auf der einen Seite die Uhren zu perfekten Maschinen mit bruchlosem Gleichlauf entwickeln, und auf der anderen Seite Individuen mit einem stark verinnerlichten Zeitgefühl herausbilden, kann jener lineare Zeitbegriff entstehen und selbstverständlich werden, der sich selbst – unsichtbar – durch alles hindurch erhält, sei es als unhintergehbare subjektive Voraussetzung des Bewußtseins oder als kosmische, objektive „Dimension”. Obwohl die Substanz dieses Begriffs nicht wirklich erfahrbar ist, sondern nur eine Fiktion darstellt, die sich durch den methodischen und z.B. in der Schule früh trainierten Gebrauch der „Zeitmaschinen” kontinuierlich anwenden läßt, hat sie sich als wesentlicher Bestandteil unserer Wirklichkeit durchgesetzt: Eine Vereinfachung sozialer Abstimmungen, die die bekannten Vorteile menschlicher Aneignung von Naturkräften bietet, deren Grenzen, Risiken und Nebenwirkungen uns inzwischen allerdings deutlich werden.

Bei der Betrachtung globaler Zusammenhänge, also vor allem dort, wo Menschen und Natur eng miteinander verbunden sind, versagt ein sich auf diesen Zeitbegriff versteifendes, sog. naturwissenschaftliches und philosophisches Denken jedoch und kann dann sogar seine eigenen letzten Fragen nur noch als Rätsel formulieren. Bei genauerem Hinsehen liegt nämlich in der Anwendung von diesem Zeitbegriff auf jene anderen lebensbestimmenden Momente, die quasi die verdrängte Seite dessen darstellen, was man versucht damit zu kontrollieren, eine Verwechslung vor: Lebenszeit und Tod, Geschichte und Kontingenz, Sinnerfüllung und Ekstase, Kommunikation und Fest, Erinnerung und Gegenwart können als Beispiele für eine potentiell unendliche Menge von Phänomenbereichen dienen, die sich gegen eine universale Einheitszeit (oder anders ausgedrückt: gegen das restlose Aufgehen in synchronisierbaren Handlungsketten) sperren. Gewiß gibt es zum Verständnis und zur Abgrenzung dieser Phänomene in der Philosophie fruchtbarere Ansätze als in der Naturwissenschaft; ohne den Schritt in eine Sozialphilosophie bleibt aber auch jene in den Aporien gefangen, die die empirische Unfaßbarkeit eines trotzdem vorausgesetzten Wesens mit sich bringt.

Zur Überwindung der in den Voraussetzungen dieses Denkens festgeschriebenen Beschränkungen bieten sich nur jene Versuche an, sich auf eine höhere Stufe zu begeben, und die Bedingungen der Produktion der alltäglichen Denkformen selbst zum Gegenstand zu machen. Trotz der Dringlichkeit der Situation, werden so vorgehende Theorien jedoch nur als Außenseiter gewertet, unter der Dominanz konservativer Haltungen. Durch deren Einfluß auf die Geschehensabläufe wird weiterhin ohne Rücksicht auf den eigentlich zentralen, nämlich den sozialen Handlungszusammenhang der Menschen in der tendenziell feindlichen Natur, an der Höherentwicklung einer Technologie gearbeitet, die ihrerseits zum absoluten Feind des Menschen zu werden droht. In deren Logik läßt sich etwa die Zeit, die vergeht bis radioaktive Reststoffe wieder zerfallen sind, als Zeitquantum berechnen, ohne dafür ein Bewußtsein zu entwickeln, was die technische Realisierung dieser Operation für den – sicher nicht nur untergeordnete Bedeutung beanspruchenden – sozialen Lebensbereich bedeutet, nämlich: keine Zukunft zu haben.



Aber nicht nur im Bereich der Sozialtheorie, sondern auch in der modernen Kunst sind deutliche Versuche auszumachen, die festgeschriebenen Zeitbegriffe über die Infragestellung der diese repräsentierenden Symbole zu attackieren und die von ihnen verdrängten Erfahrungen einzuklagen bzw. aufzuwerten. Ich werde daher im folgenden einige Punkte ansprechen und in Klammern Namen von Künstlern setzen, die dafür repräsentativ stehen.

A) Auf der einen Seite stehen die Versuche die absolute Geltung von Uhren an lebensweltlichem Geschehen wieder zu relativieren (On Kawara mit seinen Datumsbildern, deren Entstehung von den kontingenten Bedingungen, denen seine Tagesabläufe unterliegen, stark abhängig ist; oder Roman Opalka, der sich sozusagen als lebendes Zähl- bzw. Uhrwerk fetischisieren läßt) oder zu entwerten (Dalis berühmte zerfließende Uhren, Heiner Blums für das Zeitmessen untaugliche Sanduhren oder die von Pavel Zelechovsky gezeigte Uhr mit zwei verschiedenen Seiten, die die Bedingung der Eindeutigkeit der ablesbaren Zeit nicht erfüllt).

B) Auf der anderen Seite lassen sich alle die Kunstwerke zusammenfassen, die in irgendeiner Weise dem uns beherrschenden Zeitbegriff einen alternativen gegenüberstellen:

a) Insofern der Ewigkeitsanspruch der Kunst und ihrer Monumente eine Stütze des linearen Zeitbegriffs darstellt, lassen sich zunächst alle Infragestellungen von Monumentalität anführen. (Anzufangen wäre hier bei einer Position wie der von Gerhard Merz, der auf den Verlust des Glaubens an die monumentale Architektur mit melancholischen Inszenierungen der ehemals Sicherheit vermittelnden Erhabenheit reagiert, oder einer auf derartiges gemünzten Häresie von Christoph Fikenscher, der den inszenierten Gegenstand eher manisch dem Abstoßenden annähert. Dann gehören hierher diejenigen Künstler, die den Herstellungsprozeß der Werke als wesentlich reflektieren, [z.B. Georges Mathieu oder Yves Klein], sowie wenn Kunstobjekte, die aus nicht dauerhaften Materialien – sei es aufgrund materialer oder sozialer Abhängigkeiten – hergestellt werden; bei Joseph Beuys verschmelzen im Fall der 5000 Eichen sogar materielle, soziale und biologische Prozesse miteinander. Das andere Extrem dieser Gruppe reicht über den geplanten Verfall/Zerstörung des Werks, vom Happening [Fluxus] über die sogenannte Prozeßkunst [Beispiel: Hans Haackes Biomaschinen] bis zu G. Matta-Clarks Arbeiten in Abbruchhäusern, und schließlich zu jenen Extremen der Performance, die ganz ohne Requisiten auszukommen versuchen, und damit die Dauer des Werks auf die lebendige Gegenwart des Akteurs und seiner Zuschauer/Mitakteure fokussieren. Verschiedene Momente dieser Linie kombiniert auch Michele Bernardi, der seinen eigenen Körper und dessen heutige, quasinatürliche Verlängerungen (z.B. Fahrrad) mit antiken Skulpturen konfrontiert).

b) Ähnlich wäre jener andere Strang einzuordnen, der von der kinetischen Kunst bis zum Extrem der interaktiven Kunst reicht, der also mehr von der Irritation gewisser Formen maschineller Bewegung, nicht nur im Kontrast zur Dauer des Bildes, sondern auch wegen der „eigenwilligen” Rhythmik sich wiederholender Abläufe. (Als bedeutendster Vertreter dürfte Jean Tinguely gelten; siehe auch Siegfried Kaden, der uns Objekte [Flugzeuge] vorgibt, die ganz anders funktionieren als es der Begriff suggeriert, und so ihre eigenen Bewegungen im Gegensatz zu den erwarteten [idealen] als „Behinderung” erfahren lassen, die fast zwangsläufig Mitgefühl erweckt.)

c) Daß die Auseinandersetzungen mit dem Begriff Zeit aber auch im Kontrast zu der Tatsache zu verstehen sind, daß das festgehaltene Bild immer ein Bild von Vergangenem, also eigentlich gar nicht mehr aktuell, zumindest der Möglichkeit nach von unseren Handlungen schon überholt ist, spielt eine wesentliche Rolle bei jenen Kunstwerken, die die Problematik der dargestellten Zeit im Rahmen eher traditioneller Bilddarstellungen nur thematisieren. (Das findet sich als Moment schon in Milena Dopitovas Photos von einem abgekauten Kaugummi, der auch wenn er wirklich vor uns läge, nicht mehr interessant wäre, wohingegen Johannes Muggenthalers Arbeit, Knabe mit seinen späteren Händen, die „Aufnahme” erschreckend weit über das im Moment festgehaltene Bild des Knaben bis zu seinem unvermeidlichen Altern verlängert, aber dadurch – mit im Sinne Heideggers die Alltags-Zeit nichtender Geste – die daran festgemachten, durchschnittlichen Wunschvorstellungen enttäuscht.)

d) Durch die Fotografie gewinnt außerdem der Umstand an Relevanz, daß die „Aufnahmezeit” des Objekts in der bildenden Kunst relativ lange dauert und damit die Vorzüge der Langsamkeit vergegenwärtigt. (Joseph Zehrers Arbeit, Blocksekunde, läßt sich da vielleicht als ein Versuch verstehen, den viel zu oft vollzogenen Vorgang des schnellen Fotomachens für ein eigen(zei)tlicheres Geschehen, ein Gedankenspiel mit einer angenehm bilderarmen Skulptur, zurückzugewinnen).

e) Positiv gewendet führt das Problem, daß das Dargestellte immer schon Vergangenheit ist, und damit die Gegenwart tendenziell lähmt, zu dem Versuch durch das Kunstwerk eine aktuelle, und für den Augenblick öffnende Selbsterfahrung zu ermöglichen. (Jockel Heenes, indem er den leeren Augenblick, die formale Bestimmung der Punktualität der Zeit, ganz in der Art von Hegels Begrifflichkeit, noch nicht – nicht mehr, in seiner Arbeit evoziert, so daß im Betrachter der Wunsch vorstellbar werden mag, sich ins reine Selbstbewußtsein hochzubeamen; oder Patricia London Ante Paris, indem sie in ihrer Arbeit, Von der Muße, der Frage nachhängt, ob Kunst, wenn sie das Produkt von Arbeit ist, nicht von vornherein und unnötigerweise alle jene Erfahrungs-„dimensionen” verdrängt, an die etwa Paul Lafargue in seinem „Lob der Faulheit” [geschrieben 1887-88] erinnert hat.) Aber auch wesentliche Aspekte der Konzeptkunst gehören hierher, insofern es bei ihr darum geht, den Begriffsapparat des seine Wirklichkeit rezipierenden Subjekts, also auch sein „Zeitgefühl” zu reflektieren. (Man denke an Maurizio Nannuccis Wort TIME, das sich der Linearität der Schrift widersetzt, und damit auch die Linearität der Zeit aufhebt.)

f) Eine eher romantische Tendenz, die aufgeworfenen Probleme zu lösen, besteht in der Re-Mythisierung bzw. Re-Zyklisierung des modernen Zeitraums. Deren Brisanz ist allerdings nicht zu unterschätzen, insofern hier einerseits die neuerdings immer mehr in den Vordergrund geratenden Konfliktbereiche Umwelt und Geschlecht in einer Art Gegenströmung zu der andererseits wahrgenommenen Gefahr einer Mythisierung bzw. Erstarrung der Moderne artikuliert werden. (Giuseppe Penone begann so [stellvertretend für arte povera überhaupt genannt] ca. 1970 seine Baumverjüngungen durchzuführen, d.h. er hat aus einem maschinell produzierten Holzbalken wieder einen Baum mit Astansätzen herausgeschält. Noch verträumter wirken Arbeiten von Künstlern wie Jiri Ladocha, die sich wünschen ihr Glück in der Art von Stille zu finden, die uns von der Alchemie und ihren langwierigen Prozessen der Reinigung überliefert ist. Dagegen wirkt es äußerst aggressiv, wenn Milena Dopitová einen Geburtsraum konstruiert, der den Schockmoment, den die Geburt wie auch der Tod für die reine Zeit darstellt, evoziert. Negativ formuliert dies Petr Písarík in seiner Arbeit, I Will Learn To Survive. Er denunziert die Vorstellung, sich moderner Technik im Kampf gegen den Tod erfolgreich bedienen zu können, indem er eine Batterie als Sarg entpuppt.)

g) Schließlich dürfen jene Ansätze nicht unerwähnt bleiben, die sich auf den Geschichtsaspekt – sowohl der Wirklichkeit, als auch der Kunst selbst – beziehen. Dieser gilt dem universalen Zeitbegriff nur so viel, wie davon in den Fortschrittsplan, und die darin als gültig bestimmten Ziele eingeordnet werden kann. Dagegen werden solche Phasen der Vergangenheit, wie etwa die Räterepubliken oder (mit umgekehrten Vorzeichen zu lesen) Kriege und Diktaturen, die starke demokratische und damit gegen die negativen Horizonte des teleologischen Fortschrittsbegriffs gerichtete Energien wachriefen oder im Nachhinein provozieren könnten, aus der durchschnittlichen Zeitanschauung ausgeblendet. (Prominenter Vertreter einer gegen das Vergessen gerichteten Arbeit ist Luc Boltanski, der Fotografien von ermordeten Jüdinnen und Juden in großer Zahl installiert, und damit Betroffenheit artikuliert, oder Michael Hauffen [i. e. der Autor dieses Textes als Künstler] wenn er Bert Brechts Flüchtlingsgespräche auf einem Computer wiedererscheinen läßt und damit an die Aktualität und Brisanz von dessen Reflexionen gegenüber einer angeblich „großen Zeit” erinnert, von der wir heute in Deutschland wieder einmal gar nicht so weit entfernt zu sein scheinen.)



Läßt sich das aktuelle Interesse am Diskurs über „Zeit” einerseits aus dem Wunsch verstehen, die mit dem Prozeß der Beschleunigung verbundenen, jeweils neuen Verkehrs- und Organisationsformen, sowie die entsprechende Terminologie und Technologie nicht zu verpassen, sondern möglichst zur Gruppe derer zu gehören, die als erste und am meisten von den jeweils neuesten Standards profitieren, so steht dem andererseits eine geschärfte Sensibilität für die von einem immer perfekteren Zeitsystem bedrohten, vernichteten oder unterdrückten Lebensmöglichkeiten gegenüber. Diese könnte aber gerade im Phänomenbereich der Zeit die theoretische Herausforderung finden, die geeignet wäre, der tendenziellen Erstarrung orthodoxer kritischer Positionen entgegenzuwirken. Der theoretische Beitrag zur Stärkung des Widerstands gegen die rigorose Durchsetzung unerträglicher Vorhaben kann sich gegenwärtig nicht mehr auf unbedingte Vorannahmen versteifen, ohne seinerseits wenn nicht zur Bedrohung so doch zum Hindernis zu werden. In diesem Sinn können sogar neueste Erkenntnisse der Naturwissenschaften interessante Anregungen geben. Vor allem aber sollte die Tatsache anerkannt werden, daß es nicht zuletzt den Irritationen aus dem Bereich der Kunst, oder zumindest ihrer besseren Teile und Epochen, zu verdanken ist, wenn es inzwischen denkbar geworden ist, daß sich Ungewißheit und Kritik nicht mehr ausschließen.

Im Zuge der Verfeinerung soziologischer Modelle wird neuerdings der günstige Augenblick, griechisch kairos, wieder entdeckt . Handelt es sich nämlich darum zu bestimmen, welches Gewicht die von den sozialen Akteuren beherrschten symbolischen Fähigkeiten in der Auseinandersetzung um den Stellenwert verschiedener Praktiken spielen können, versagt der klassische Determinismus, solange er an seinem unausgesprochenen Interesse an der Vernachlässigung real und kategorisch untergeordneter Motive festhält. In einem günstigen Augenblick sind auch solche weniger beachteten „Nebensachen” momentan aufgeschlossen, und nur wer das bemerkt, kann daraus Vorteile ziehen. Diese Logik auf ihn selbst bezogen, muß der Theoretiker eingestehen, daß seine eigene Wirksamkeit ähnlichen Voraussetzungen unterliegt, wie die der Kunst: Es kommt auf ein nur sehr schwer erlernbares Können an, wenn Worte überzeugen sollen. Umgekehrt braucht angesichts der Fülle von Katalogtexten und Kunstkommentaren nicht erst betont werden, wie sehr Kunst von einem theoretischen Diskurs abhängt, insofern dieser zu ihrem Verständnis unentbehrliches Vorwissen allgemein bereitstellt, dabei also nicht nur zur nachträglichen Vertretung ihrer Ansprüche auf Anerkennung, sondern auch als Orientierungsinstrument in komplexen Zusammenhängen immer schon angewendet wird.

Dies als Hinweis auf die Möglichkeiten, die die Kategorie der Zeit bieten könnte, eine Kritik der gesellschaftlichen Praxis in den Zwischenbereichen zu verankern, die quer zu den traditionellen politischen Gegensätzen liegen. Was z.B. an solchen Fehlformen wie notorisches Zuspätkommen, hastiges oder gehemmtes Handeln als nur subjektive Störung begriffen wird, könnte dann einmal als Problem der Synchronisierung verschiedener Abläufe unter Einbeziehung ihrer Eigenheiten, der Abdrängung ins zufällig Subjektive entgehen, und so subtilere Formen der Unterdrückung systematisch erkennbar werden lassen.

Am heutigen Stand dessen, was als Bewußtsein der Problematik der modernen Welt insgesamt gelten könnte, hat Kunst also einen nicht unwesentlichen Anteil, indem sie die Symbole, an denen sich alltägliches Handeln orientiert, immer wieder schockhaft mit den durch sie als undenkbar ausgeschlossenen Erfahrungs- und Handlungsansätzen konfrontiert und damit das abstrakte Prinzip der Demokratie an jenen Punkten einklagt, die noch von überkommenen Vorstellungen und den mit ihnen korrespondierenden Formen der Sakralisierung und Verklärung unantastbarer Werte bestimmt sind. Allerdings lassen sich auch in der Kunst immer wieder Tendenzen ausmachen, diesen unbequemen Weg zu meiden, und in der Rückbesinnung auf vermeintlich bessere Zeiten Ruhe zu suchen, sei es auch in der Art, daß bestimmte Epochen der Moderne selbst zu solchen fundamentalen Schlüsselzeiten verklärt und deren Werte als unantastbare den Anfechtungen der Gegenwart entzogen werden.

Da aber die Verbreitung der Kunstwerke immer mit einer Codierung im Sinne von Affirmation asymmetrischer Ordnung gekoppelt ist, kann es nicht ihr höchstes Ziel sein, sich einer „Aufweichung” einer einmal eingenommenen Position entgegenzustemmen. Ihre beste Tradition hat die moderne Kunst in der Unterminierung bzw. Zerstörung des Sinns, insofern dieser den Ordnungskonzepten der „Zitadellenkultur” immer schon als Strukturelement instrumenteller Macht homolog ist. Wenn wir daher in der Konsequenz unserer Argumentation – am Ende der Zeit, die wir uns hierfür genommen haben – an die Kunst als Parole das Motiv permanenter Verflüssigung bzw. Negation ausgeben würden, kämen wir einer Formulierung von Lucius Annaeus Seneca (aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung) nahe. Auch ihm ging es darum, das Gefühl der Zerrissenheit zu begreifen, das jene Unruhe kennzeichnet, die mit dem Bewußtsein verknüpft ist, daß es kein Außerhalb des sozialen Zusammenhangs gibt, in dem wir Mitspieler sind – wie auch immer wir das beurteilen mögen:

„Wir sind nur (...) Schauspieler in dem Theater, das Welt heißt. (...) Unser Leben ist eine Flucht. Wir müssen eilen, es drängt: ohne Aufschub jetzt leben. (...) Die Intensität des Lebens wird gewogen, nicht seine Länge gemessen.(...) Die Zeit flieht in rasender Geschwindigkeit, sie ist eigentlich gar nicht.”

Michael Hauffen, 18. September 1994, 14:43 Uhr

Newsletter

Michael Hauffen

derzeit noch nicht aktiv, bitte versuchen Sie es später wieder