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Eine Probe auf die Gestaltungsspielräume in einer Behörde


Auf Einladung von LIFTARCHIV fand ein Auftritt von Schleuser.net im Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt München statt. Die Funktion dieser Behörde ist es nicht nur, den „Bürgern” der Stadt verwaltungsspezifische Dokumente auszustellen und die dazugehörigen Daten zu verwalten, sondern sie hat auch Anträge auf Zulassung zu diesem Bürgerstatus zu bearbeiten und dabei Antragsteller zurückzuweisen. „Bürger” bezeichnet in diesem Sinn einen Status, der als Komplement zur Bürokratie fungiert.
Als Antwort auf Kritik und Misstrauen, mit dem spätestens seit Max Weber die Bürokratisierung der Gesellschaft bedacht wird, bemüht sich diese Behörde heute um Akzeptanz bei ihren Kunden, den Bürgern. Im Zuge dieses Trends, der analog zu einer allgemeineren Leitvorstellung von Kundenfreundlichkeit gesehen werden kann, beschloss die Stadtverwaltung vor ein paar Jahren eine bauliche Veränderung, die in Form eines hellen und nach außen offenen Foyers – an der architektonischen Grenze von Innen nach Außen also – den freundlichen Empfang der Bürger sinnfällig werden lassen sollte. Dafür wurde auch eine künstlerische Ausgestaltung eingeplant, wobei die Tatsache entscheidend sein dürfte, dass es zum guten Ton eines Kundenservice inzwischen auch gehört, Zeichen der Offenheit für individuelle Ansprüche zu setzen – und was wäre dafür besser geeignet als Kunst?
Allerdings beziehen sich diese Anstrengungen nicht auf die andere oben genannte Funktion. Hier steht dem Trend zu mehr „Bürgernähe” ein anderer Trend zu schärferer Zurückweisung von Nicht-Bürgern gegenüber. Bei Nicht-Bürgern von Ansprüchen auf Selbstverwirklichung, Kreativität oder Neugier zu sprechen, dürfte eher abwegig erscheinen angesichts des Mangels an elementaren Voraussetzungen für individuelle Spielräume zur Lebensgestaltung. Die Bandbreite von Alternativen zur Rolle des geduldigen Antragstellers (mit wenig Hoffnung auf Zukunft) ist hier so gering, dass an ein Interesse an Kunst wohl kaum zu denken sein kann.
Die für die Auswahl der Kunst an diesem Ort zuständige Kommission des Baureferats entschied sich allerdings mit LIFTARCHIV von Szuper Gallery für ein Konzept, das genau diesem verdeckten Aspekt der Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Bürokratie und Individuen große Aufmerksamkeit schenkt. Mit der Beobachtung dieser dunklen Seite des Bürgerstatus geht dabei die Suche nach Alternativen zur herrschenden Ordnung einher, was zunächst allerdings vor allem zu bedeuten scheint: die Suche nach möglichen Formen von Widerstand.
Die dunkle Seite des Bürgerstatus muss man es auch deshalb nennen, weil sich die Komplementärrollen von Bürgern und bürokratischer Organisation weniger auf einen transparenten Diskurs oder rationalen Konsens, als auf stillschweigende Anerkennung von Verhältnissen gründen, und vermutlich gerade damit ihre grundlegende Funktion gewinnen. Wenn demgegenüber Dissens artikuliert wird, kann das umgekehrt zunächst nicht als verbindliche Kritik im Horizont allgemeiner Probleme wahrgenommen, sondern muss als potentielle Bedrohung einer Struktur, an die sich die Gesellschaft angepasst hat, und die sich als möglichst abgesicherte Normalität von selbst verstehen soll, eingestuft werden.
Auf diese Unmöglichkeit von sachlichen Diskursen antwortet das Konzept von Schleuser.net deshalb mit einer ästhetischen Strategie der Umwertung von Symbolen. Mit der Installation „Brauchen wir wirklich einen neuen Anti-Imperialismus?” formulieren und manifestieren sie keine (wie auch immer inszenierte) direkte Kritik gegen eine Institution, sondern führen selbst eine Organisation ein, die den Grenzverkehr an dieser systematischen Stelle in Bewegung bringt.
In einem ersten Schritt vermeiden sie es also, die zu erwartenden „normalen” Abwehrreaktionsmuster auszulösen, und stellen stattdessen eine Situation her, in der diese selbst irritiert werden. Weder begeben sich Schleuser.net in eine bloße Gegenposition zu dieser oder irgendeiner anderen sozialen Realität, noch spielen sie einfach die Opfer-Karte aus, womit sie jeweils die Rolle der Organisation implizit bestätigen würden, sondern sie treten demonstrativ selbst als kundenfreundliche und in ein Netzwerk von Aktivitäten integrierte Institution auf, die an einer Optimierung sozialer Mobilität und Homöostase – also eigentlichen Standard-Ansprüchen moderner Gesellschaften – arbeitet.
In Bezug auf ihren Kundenkreis positionieren sie sich zwar außerhalb der Grenze, die die Bürger und ihre Normalität vom Rest der Welt trennt, und sie beschäftigen sich praktisch und theoretisch mit den Fragen, die sich nur hier stellen. Aber sie bringen hierbei Verfahrensweisen zum Einsatz, die auf der Innenseite der Grenze jene Normalität geradezu verkörpern: Sie bieten einen kundenfreundlichen Service an, für diejenigen, die über die Grenze wollen; sie erarbeiten, sammeln und archivieren Information und Wissen, das dafür verwertbar ist, und geben sich die Form einer Organisation, die diese Information im politischen Feld im Namen ihrer (potenziellen) Mitglieder zur Geltung bringt. Damit behandelt Schleuser.net diejenigen, die von den normalen bürgerlichen Rechten und Möglichkeiten ausgeschlossen sind, in jenem unausgesprochenen Sinn bereits als Bürger, für die offiziell gesorgt wird. Anders gesagt bieten sie sich damit als eine Art Supplement an, das den Aufgabenbereich der Behörden nur erweitert und vervollständigt.
Natürlich bleibt dieses dekonstruierende Spiel mit einer Grenze, die in jeder sozialen Operation, welche sich auf sie bezieht, zugleich gewahrt und neu gezogen wird, nicht unbemerkt. Vom Standpunkt des unter der Bürokratie leidenden Individuums kann man die geschickte Wendung gegen eine ihrer Schwachstellen genießen, während aus der Perspektive derer, die um Absorption von sozialer Unsicherheit besorgt sind, hier bereits sensible Marken tangiert werden. An dieser Stelle agierten Schleuser.net allerdings nicht gerade behutsam, sondern haben mit dem Reizwort „Anti-Imperialismus” in ihrem plakativ inszenierten Titel das System der Frühwarnsensoren direkt provoziert.
Kaum verwunderlich ist, dass in einer Behörde wie dieser dann auch eine Gegenreaktion ausgelöst wurde, eher vielleicht, dass diese so vorsichtig ausfiel: In aller Stille wurde der empfindliche Schriftzug und die dazugehörige Installation abgedeckt und niemand wurde offiziell zunächst von dem Vorgang informiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dies im Hinblick auf zu befürchtende Turbulenzen zu verstehen, die sich daraus ergeben könnten, dass andere Behörden (hier insbesondere die Baubehörde als Schutzherr der von ihr ausgewählten Kunst), die Presse bzw. die KünstlerInnen von Schleuser.net wiederum reagieren, und damit einen Konflikt generieren, der größere Wellen schlägt, als es dem Ideal des fraglosen Weiteroperierens angenehm sein kann.
Den KünstlerInnen ging es aber in Bezug auf diese mehr oder weniger erwartbaren Manöver nicht so sehr darum, auf einer bestimmten Manifestation zu bestehen, als vielmehr die faktischen Handlungen, Sensibilitäten und Spielräume als Elemente eines dynamischen Zusammenhangs auszuloten, in dem Grenzen nicht nur verteidigt, sondern permanent reproduziert werden müssen. Welche Operationen die Beteiligten dabei vornehmen, oder wie sie sich in solch einem mehrdeutigen Feld von Optionen entscheiden, ist deshalb nur solange kalkulierbar, wie an jeweils von der anderen Seite erwarteten Mustern festgehalten wird. Insofern ist das Agreement, das zwischen LIFTARCHIV/Schleuser.net und ihrer gastgebenden Behörde getroffen wurde, dass es sich bei deren Reaktion nicht um Zensur, sondern um eine Kunstaktion gehandelt habe, eine überraschende Neuinterpretation für den regelmäßigen Fall, dass der freie künstlerische Ausdruck von Seiten der Bürokratie behindert wird. Aus der Perspektive der Kunst dürfte hieran vor allem interessant sein, dass damit der Spannungsbogen einer symbolischen Intervention aufrechterhalten wurde, die den Blick auf die Mehrdeutigkeit sozialer Abstimmungsprozesse lenkt. Gerade wenn einer der Beteiligten eine Institution von scheinbar ungebrochener Solidität ist, kann dieses Resultat die Erwartung konkretisieren, dass über die mögliche Ordnung moderner Gesellschaften noch nicht endgültig entschieden ist.

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Michael Hauffen

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